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TOO BIG TO FAIL – Zukunft Wohnen Bestand

14. September 2023

 

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AUFTAKT DER ARCHITEKTURWOCHEN NRW 2023

Mit dem Credo „Zweites Leben, Erste Wahl“ nimmt sich der BDA Nordrhein-Westfalen mit den diesjährigen Architekturwochen zum zweiten Mal in Folge dem Bauen im Bestand an, konkret dem Wohnen, wie der Untertitel „Zukunft Wohnen Bestand“ verdeutlicht. Den Auftakt zum über das gesamte Bundesland verteilten Programm bildete das BDA-Gespräch unter dem Stichwort „Too big zu fail“ im Düsseldorfer Stahlwerk. Was während der Finanzkrise ab 2008 versinnbildlichen sollte, dass es vereinzelte Elemente unseres Wirtschaftssystems gibt, die zu wichtig sind, um zu scheitern, weil ihr Verlust gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben würde, wird hier umgemünzt auf die Relevanz der Umbaukultur insbesondere mit Blick auf das Wohnen. Gesamtgesellschaftlich, so die Ausgangsthese, können wir uns ein Scheitern des Um- und Weiterbaus unseres Gebäudebestands in Stadt und Land nicht leisten.

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Gert Lorber
Landesvorsitzender
BDA NRW

 

FAKTEN, GRAUE UND SOZIALE ENERGIE

Zum einen ist da die normative Kraft des Faktischen. Der menschengemachte Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten, wir können ihn und seine allseits spürbaren Folgen nurmehr abmildern. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich 2015 im Rahmen der UN-Konferenz in Paris dazu verpflichtet, die dort vereinbarten Klimaschutzziele einzuhalten und wurde aufgrund mangelnder Umsetzung vom Bundesgerichtshof dazu verdonnert, ihre Klimaschutzgesetzgebung zu verbessern. Es geht also nicht um ein „Nice to have“, sondern um internationales und bundesdeutsches geltendes Recht.

Architektinnen und Architekten aber sind dank ihres Metiers dazu im Stande, ernsthaft etwas zum Erhalt eines lebensfähigen Planeten beizutragen: Schon vor zwei Jahren hat der UN-Bericht „Global Status Report for Buildings and Construction“ belegt, dass 36 Prozent des weltweiten Energiebedarfs und 37 Prozent der globalen Kohlendioxid-Emissionen auf das Konto der Bau- und Gebäudewirtschaft gehen. Bezogen auf Deutschland wissen wir dank des Umweltbundesamtes, dass hierzulande jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle entstehen. Das entspricht 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls. Immense Potenziale also. Neben der „grauen Energie“ schlummert in unseren Gebäuden aber auch eine gewaltige „soziale Energie“.

Die Räume unseres Lebens verbinden sich mit Geschichten unserer Erinnerungen. Das beginnt beim Zimmer, in dem wir groß geworden sind, führt über verschiedene, stetig eingeübte Wege in der Stadt zu jenen Räumen, in denen wir Freunde treffen, zum ersten Mal den damaligen Schwarm gesehen oder sogar geküsst haben, bis zu den ersten eigenen vier Wände und so weiter und so fort.

Neben der „grauen Energie“
schlummert in unseren Gebäuden
auch eine gewaltige „soziale Energie“.
– David Kasparek, Bonn

 

FREIHEIT UND LEBENSWANDEL

Der an der Radboud-Universität in Nijmegen lehrende politische Philosoph Jean-Pierre Wils schlug den Bogen zum Auftakt des BDA-Gesprächs entsprechend weit und fokussierte schließlich auf die Frage, wie wir mit dem Begriff der Freiheit umgehen. Die Freiheit des Individuums wird immer wieder als Argument gegen einen Wandel unseres Lebenswandels ins Feld geführt, obschon den allermeisten klar ist, dass genau dieser Lebenswandelwandel so dringend notwendig ist. Wils machte dabei deutlich, dass Freiheit nichts ist, was schon immer da war, sondern im Zuge von Aushandlungsprozessen errungen wurde. Der Grad individueller Wahlmöglichkeiten, den wir heute in Westeuropa genießen, war noch vor zwei Generationen undenkbar. Dies vor Augen, ist also eine Neujustierung unserer Freiheiten mit Blick auf eine global verträgliche Lebensweise als Teil eines solchen Aushandlungsprozesses denkbar.

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VERZICHT UND FREIHEIT
(Über-)Lebensräume der Zukunft
 – Prof. Dr. Jean-Pierre Wils
Radboud-Universität Nijmwegen

Jean-Pierre Wils betonte, wir müssen das so bald wie möglich gemeinschaftlich tun, denn sonst würden uns in gar nicht allzu ferner Zukunft disruptive und einschneidende Momente schlicht dazu zwingen, unser Leben anzupassen. Dabei schlug Wils den Bogen von Christoph Möllers, der an der TU Berlin Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie lehrt und der Freiheit als „eine Praxis der Ergebnisoffenheit“ beschrieben hat, über Jonathan Lear mit seinem Buch „Radikale Hoffnung“ und Philipp Lepenies „Verbot und Verzicht“ bis zu Philipp Staab und dessen Werk „Anpassung“. Schließlich endet Wils mit einem Zitat von Roger Willemsen, der schon 2015 konstatierte: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“

 

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UPDATE MÜNCHEN-NEUPERLACH
– Susanne Grillmeier
Referat für Stadtplanung und Bauordnung
Landeshauptstadt München

Ausgehend von dieser gesellschaftlichen Metaebene unternahm Susanne Grillmeier eine erste Konkretion und fokussierte die Stadt. Die Stadtplanerin ist seit 2018 die Gebietsverantwortliche für die Vorbereitung, Begleitung und Durchführung der Sanierung der Großwohnsiedlung Neuperlach im Münchner Südosten. Ausgehend von einer intensiven Beteiligung der Bewohnenden wird dort auf verschiedenen Ebenen an einem „Update“ des Stadtteils gearbeitet. Neben konkreten Maßnahmen wie Verschattungselementen an Ampeln oder für Nachbarschaftstreffen im Freien wird dort auch über lokale Energiegemeinschaften auf Grundlage erneuerbarer Energieträger, Nachbarschaftsgärten, intensiver und extensiver Begrünung des Stadtraums und der Dächer nachgedacht. All das wird inzwischen im Rahmen des New European Bauhaus gefördert, sodass sich hier prototypische Maßnahmen erarbeiten und auf andere, vergleichbare Stadtstrukturen übertragen lassen.

 

BESTAND ALS INNOVATIONSKATALYSATOR

Axel Humpert, Architekt aus Zürich und Professor an der FHNW Muttenz, beschrieb im Anschluss, welche Potenziale sich durch eine radikale Hinwendung zum Bestand für die Architektur gewinnen lassen. Humpert zitierte den schweizerischen Architekten und Publizisten Benedikt Loderer, der auf der diesjährigen Fachtagung für Nachhaltiges Bauen in Bern sagte: „Von den Römern bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in der Schweiz weniger gebaut, als von 1945 bis heute.“

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„Der Bestand ist für das Bauen auf allen Ebenen und Seiten ein Innovationskatalysator.“
– Axel Humpert
BHSF Architekten, Zürich/München

Dazu zeigte Humpert eine Karte des Bauinventars des Kantons Basel zur Gemeinde Pratteln, die deutlich machte, wie wenig „schützenswerte“, also denkmalgeschützte Bauten es dort nur gibt – nur einzelne Bauten im historischen Dorfkern –, und wie groß die Anzahl der Häuser, die vor oder nach 1970 erstellt und damit im konventionellen Sinn nicht „schützenswert“, also zu erhalten sind. Diesem großen Bestand gilt das Hauptaugenmerk von Humpert und seinem Büro BHSF, das er mit Benedikt Boucsein und Tim Seidel betreibt. Anhand des Umbaus einer ehemaligen Schokoladenfabrik in Bern und dem derzeit in der Fertigstellung befindlichen Umbau eines Büro-Ensembles aus dem Jahr 2006 machte der Architekt zum einen deutlich, dass sich diese Potenziale nicht nur in jenen industriellen Anlagen finden, die seit den 1960er-Jahren allzu gerne zu „coolen Lofts“ umgebaut werden, sondern eben auch in vermeintlich schnöder Büroarchitektur des kapitalisierten Immobilienmarkts.

„Die Vielfalt im Bestandsbau“, so Axel Humpert, zwinge die Architektur, „außerhalb der Konventionen Neues zu entwickeln.“ Das Bauen im Bestand entfalte so das Potenzial, der „allgemeinen Komplexität, der wir uns als Gesellschaft gegenüber sehen, ihren architektonischen Ausdruck zu verleihen“. Im Gegensatz zum Neubau, so Humpert weiter, erlaube der Bestand „viel aggressiver die Grenzen der Normen und Gesetze zu testen“, da die Schnittstellen zwischen Neu und Alt nicht der Logik der Industrie folgten. „Wir müssen die eingeübten Muster aus vermarktungsoptimiertem Neubau, Amortisation und Abbruch verlassen und die Furcht vor den vermeintlichen Nachteilen des Umbaus überwinden.
„Der Bestand ist für das Bauen auf allen Ebenen und Seiten ein Innovationskatalysator“, so Axel Humpert zum Schluss.

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In der abschließenden Diskussion war es erneut Jean-Pierre Wils, der diesem positiven fachspezifischen Blick eine gesellschaftlich-politische Komponente an die Seite stellte, als er von eigenen Erfahrungen seiner Heimatgemeinde bei Kleve berichtete. Dort, so der Philosoph, sei die Kommunalregierung „dabei gewesen, alle Fehler der Stadtplanung der letzten 50 Jahre zu wiederholen“. Mit bürgerschaftlichem Engagement, das über Altersgruppen ebenso hinweg reichte wie über politische Farben, habe man dies jedoch verhindern können. Politik, so Wils, beginne vor der eigenen Haustür, und ließe sich dort auch immer wieder konkret umsetzen.

David Kasparek